Erstes Goetheanum

anthroposophisches.de

Vom Wahrnehmen zum Begriff

© Josef Wassner Schifferstadt 2016/24

Wahrnehmung, Empfindung, Vorstellung, Begriff ...

In einem Vortrag vom 20.10.1908 in Berlin (Ga 108) spricht R.Steiner über die Logik. (Hierzu gibt es eine eigene Seite.) Einige Stellen daraus scheinen mir aber ein Licht auf das Verhältnis von Wahrnehmung, Empfindung und Begriffsbildung zu werfen, dass ich dies gerne hier herausstellen möchte:


Über den Begriff aus Ga 108 Seite 198


Wenn wir einem Gegenstand gegenübertreten so ist das, was sich zuerst abspielt, die Empfindung.

Wir bemerken eine Farbe, einen Geschmack oder Geruch, und diesen Tatbestand, der sich da zwischen Mensch und Gegenstand abspielt, müssen wir zunächst als durch die Empfindung charakterisiert betrachten. Was in der Aussage liegt: Etwas ist warm, kalt und so weiter, ist eine Empfindung.

Diese reine Empfindung haben wir aber eigentlich im gewöhnlichen Leben gar nicht. Wir empfinden an einer roten Rose nicht nur die rote Farbe, sondern wenn wir in Wechselwirkung treten mit den Gegenständen, so haben wir immer gleich eine Gruppe von Empfindungen. Die Verbindung der Empfindungen «Rot, Duft, Ausdehnung, Form» nennen wir «Rose».

Einzelne Empfindungen haben wir eigentlich nicht, sondern nur Gruppen von Empfindungen. Eine solche Gruppe kann man eine «Wahrnehmung» nennen.

In der formalen Logik muss man scharf unterscheiden zwischen Wahrnehmung und Empfindung. Wahrnehmung und Empfindung sind etwas durchaus Verschiedenes. Die Wahrnehmung ist das erste, was uns entgegentritt, sie muss erst zergliedert werden, um eine Empfindung zu haben.

Das, was uns einen Seeleninhalt gibt, ist aber nicht das einzige. Die Rose zum Beispiel übt einen Eindruck auf uns aus: Rot, Duft, Form, Ausdehnung. Wenden wir uns ab von der Rose, so behalten wir in der Seele etwas zurück wie einen abgeblassten Rest des Roten, des Duftes, der Ausdehnung, und so weiter. Dieser abgeblasste Rest ist die Vorstellung. Man sollte nicht verwechseln Wahrnehmung und Vorstellung. Die Vorstellung eines Dinges ist das, wo das Ding nicht mehr dabei ist. Die Vorstellung ist schon ein Erinnerungsbild der Wahrnehmung.

Wir sind aber immer noch nicht zum Begriff gekommen. Die Vorstellung erhalten wir, indem wir uns den Eindrücken der Außenwelt aussetzen. Wir behalten dann als Bild die Vorstellung zurück. Die meisten Menschen kommen Zeit ihres Lebens nicht über die Vorstellung hinaus, sie dringen nicht vor zum eigentlichen Begriff.


Über den Begriff (aus Ga 108)

(Seite: 228) ... [Die eigentliche Natur des Begriffes kann für die heutige Menschheit nur am mathematischen Begriff wirklich erfaßt werden], weil dieser zunächst das zeigt, was innerlich konstruiert ist und dann in der Außenwelt wiederum gefunden wird. Der Begriff des Kreises kann nicht so gebildet werden, daß man verschiedene Kreise, grüne, blaue, große und kleine, durchläuft und dann alles das wegläßt, was nicht gemeinsam ist, und sich dann ein Abstraktum bildet. Der Begriff wird von innen heraus gebildet. Man muß sich die Gedankenkonstruktion bilden. [...] Wer etwas versteht von der Sache, weiß, daß man auch zum Begriff des Pferdes nicht dadurch kommt, daß man die Verschiedenheiten wegläßt und das Übrigbleibende behält. So wird der Begriff nicht gebildet, sondern durch innerliche Konstruktion, wie der Begriff des Kreises, nur nicht so einfach. Da tritt eben das ein, was ich ... erwähnt habe von dem Wolfe, der sein ganzes Leben lang Lämmer frißt und doch kein Lamm wird. Wenn man den Begriff des Wolfes so hat, so hat man, was Aristoteles die Form des Wolfes nennt. Auf die Materie des Wolfes kommt es nicht an. Wenn er auch lauter Lämmer frißt, wird er doch kein Lamm. Wenn man bloß auf die Materie sieht, müßte man wohl sagen, daß, wenn er lauter Lämmer verzehrt, er eigentlich ein Lamm werden müßte. Er wird kein Lamm, weil es auf das ankommt, wie er die Materie organisiert, und das ist dasjenige, was in ihm als die «Form» lebt und was man im reinen Begriff konstruieren kann. ...

(Seite: 238 und folgende) Wir haben den Begriff selber als etwas kennengelernt, was rein innerhalb unseres Geistes selbst konstruiert wird, und wir haben uns klar gemacht, daß diese Begriffskonstruktion eine Realität, eine Wahrheit ist, daß alle philosophischen Erörterungen auf halbem, vielleicht auf einem viertel Wege stehenbleiben, die in dem Begriff nur eine durch Abstraktion entstehende Abschattierung dessen sehen, was wir als Vorstellung gewinnen. Der Begriff ist etwas, was nicht aus der Vorstellung durch Abstraktion gewonnen wird, sondern der Begriff ist etwas … , das in innerlicher Konstruktion gewonnen wird.

Um nun ein Bild zu bekommen von der Natur des Begriffes und des Begriffssystems, des Organismus unserer Begriffe, stellen wir uns einmal vor, welches Verhältnis diese Begriffswelt einnimmt auf der einen Seite zu der um uns ausgebreiteten Welt des sinnlich Wahrgenommenen, und auf der anderen Seite zu der Wirklichkeit, die durch übersinnliche Beobachtung uns in der Anthroposophie zukommt. Sie können sich das Gefüge, das Netz von Begriffen, das der Mensch hat - von den mathematischen Größen und Zahlenbegriffen angefangen bis zu den komplizierten Begriffen, mit denen Goethe in seiner «Metamorphose» einen Anfang gemacht hat, die aber in unserer abendländischen Kultur noch ganz in den Anfängen ruhen -, Sie können sich dieses ganze Begriffsnetz wie eine Tafel vorstellen, die die Grenze bildet zwischen der sinnlichen Welt auf der einen und der geistigen Welt auf der anderen Seite. So also können wir uns gerade durch das Begriffsnetz begrenzt denken: auf der einen Seite die Sphäre der übersinnlichen und auf der anderen Seite die Sphäre der sinnlichen Wirklichkeit.

Wenn der Mensch als sinnlicher Beobachter der Dinge sein Auge oder seine anderen Wahrnehmungsorgane bloß richten würde auf die äußere Umwelt, so würde er bloß Vorstellungen erleben. Es war das gezeigt worden an dem Beispiel: Wenn ein Mensch so weit hinausfahren würde auf ein Meer, daß er um sich nichts anderes sieht als die Meeresoberfläche und eine scheinbare Himmelshalbkugel, gestützt auf diese Meeresoberfläche, dann würde er den Kreis, den er als Horizontlinie um sich hat, durch äußere Wahrnehmung gewonnen haben; er würde die Vorstellung des Kreises sich durch äußere Wahrnehmung gebildet haben. Wenn er dagegen keine solche äußere Wahrnehmung hat, sich bloß im Geiste jenes Bild konstruiert, das entsteht, wenn alle Punkte einer Linie, von einem festen Punkte, dem Mittelpunkte, gleich weit entfernt sind, dann hat er - im Gegensatz zur Vorstellung - den Begriff des Kreises. So könnten wir auch andere mathematische Begriffe, zum Beispiel den Begriff des Quadrats, des Dreiecks, des Vierkants, der Ellipse, der Hyperbel und so weiter innerlich konstruieren. Wir könnten noch weiter gehen, und wir könnten uns endlich erheben zu einer wirklichen Erkenntnis der Goetheschen Morphologie, zu den Begriffen der Organik, zum Urtier, zur Urpflanze, deren Begriffe ebenso entstanden sind wie der Begriff des Kreises, und die - wie Goethe sagt - ebenso angewendet werden können, wie die mathematischen Formeln.

Wenn der Mensch so an die sinnliche Wirklichkeit herantritt, wird er finden, daß diese sinnliche Wirklichkeit übereinstimmt mit dem, was er sich als Begriff konstruiert hat. Er kann zum Beispiel finden, daß sein innerlich konstruierter Begriff des Kreises zusammenfällt mit dem Kreis, der sich der sinnlichen Beobachtung ergibt durch das Hinausfahren aufs Meer. Er fängt dann an zu verstehen, was sich ihm in der Wahrnehmung darbietet im Vergleich zu dem, was er sich selbst als Begriff gebildet hat. Begriffe werden also nicht durch Wahrnehmung gewonnen. Das ist ein Vorurteil, das heute sehr verbreitet ist. Begriffe werden gewonnen durch innerliche Konstruktion. Der Begriff ist sozusagen dasjenige, wozu der Mensch kommt, gerade wenn er absieht von aller äußeren, sinnlichen Wirklichkeit. Und nun kann er zusammenwirken lassen, was er innerlich konstruiert hat, mit dem, was sich ihm äußerlich als sinnliche Wirklichkeit darstellt.


Damit hätten wir fixiert die Stellung des Begriffsnetzes zu der äußeren, sinnlichen Wirklichkeit. Jetzt aber müssen wir uns auch fragen: Wie ist die Stellung unseres Begriffsnetzes zu der übersinnlichen Wirklichkeit?

- Zunächst ist es nicht anders als bei der sinnlichen Wirklichkeit. Wenn jemand - durch die öfters hier besprochenen Methoden des Hellsehens - sich die übersinnliche Wirklichkeit eröffnet und nun mit seinen Begriffen an diese Wirklichkeit herantritt, so wird er ebenso dieses Begriffsnetz zusammenfallend finden mit der übersinnlichen Wirklichkeit. Genau ebenso werden die übersinnlichen Tatsachen und Wesen, nur von der anderen Seite her, auf sein Begriffsnetz wirken, und er wird es damit zusammenfallend finden. So daß wir sagen können: Es werfen gewissermaßen die übersinnlichen Wirklichkeiten ihre Strahlen auf das Begriffsnetz, wie auf der anderen Seite die sinnliche Wirklichkeit dies tut. Am Begriffsnetz treffen sich sinnliche und übersinnliche Wirklichkeit.

[... Wir wollen] uns durch ein Bild klarmachen, woher dieses Begriffsnetz, von dem der Mensch weiß, daß er es gewissermaßen im Geiste innerlich spinnt - gestatten Sie den Ausdruck -, woher dieses Begriffsnetz eigentlich stammt. Wir können es uns am besten dadurch klarmachen, wenn wir uns das Bild eines Schattens, der an die Wand geworfen wird, vorstellen. Wenn Sie sehen, daß die Hand ein Schattenbild an die Wand wirft, so werden Sie sagen: Wenn die Hand nicht da wäre, so würde auch das Schattenbild nicht entstehen. Das Schattenbild ist seinem Urbilde ähnlich, aber es hat eine besondere Eigentümlichkeit, es ist eigentlich - nichts! Denn gerade weil die Hand das Licht abhält, dadurch, daß an die Stelle des Lichtes das Nicht-Licht tritt, dadurch entsteht das Schattenbild. Also durch Auslöschung das Lichtes durch die Hand entsteht das Schattenbild. Genau ebenso entstehen unsere Begriffe in Wirklichkeit. Wir meinen nur, daß wir sie aus uns herausspinnen. Sie entstehen dadurch, daß hinter unserer denkenden Seele die übersinnliche Wirklichkeit steht und auf diese Seele ihre Schattenbilder wirft.


Und der Begriff ist eigentlich nichts anderes als das Auslöschen der übersinnlichen Wirklichkeit auf der Wand unserer Seele. Und weil unsere Begriffe den Urbildern der übersinnlichen Welt ähnlich sind - wie das Schattenbild der Hand seinem Urbilde ähnlich ist -, darum sind die Begriffe etwas, was im Menschen eine Ahnung hervorrufen kann von den übersinnlichen Wirklichkeiten. Daß der Mensch meint, das Begriffsnetz aus sich herauszuspinnen, kommt daher, weil er zunächst keine Anschauung hat von dieser übersinnlichen Welt. Aber sie ist da und wirkt, sie wirft ihre Schattenbilder. Wo sie auftrifft auf die Wahrnehmung des Sinnlichen, da entstehen diese Schattenbilder, und die Begriffe sind nichts anderes als diese Schattenbilder.

Wir haben also in den Begriffen keine übersinnliche Wirklichkeit, ebensowenig, wie wir im Schattenbilde der Hand die Hand selbst haben, aber wir haben sozusagen Schattenbilder davon. Damit haben wir das Begriffsnetz sozusagen als die Grenze zwischen sinnlicher und übersinnlicher Wirklichkeit definiert, dabei aber erkannt, daß die Begriffe nicht aus der sinnlichen, sondern aus der übersinnlichen Welt in die Seele einströmen. So ist die Tatsache.


Die folgenden Betrachtungen aus GA 266b Seite 483 gehen noch den Schritt von den Dingen und den Begriffen zu dem Wesenhaften dahinter.

[... Wenn der Mensch durch eine esoterische Schulung lernt ] vorzudringen bis zu der Seele [Innenwelt] der Dinge selbst, da lernt er hinzuzufügen zu dem, was er durch die Sinne erfahren kann äußerlich von den Dingen, das innere Wesen derselben in sich zu erleben. Und allmählich dringt man vor von dem bloßen Begriff, den man sich über ein Ding bildet, zu dem Wesenhaften, das einst schöpferisch dies Ding selbst gebildet hat, zu der göttlichen Idee. Und das wird einem dann die wahre Realität. So erfaßt man den Unterschied des heutigen Verstandes und Intellektes mit dem Schöpferischen der Welt. Innere Weisheit, die hinabgesunken ist in das Dunkel des Unbewußten, wirkt noch im Menschen im traumlosen Schlafe. Und diese innere Weisheit emporzuheben in die Sphäre des Bewußtseins, ist die Aufgabe des Esoterikers.